Weg mit den Notstrom-Dieselgeneratoren! Neue SLAs geben Batteriespeichern für Rechenzentren eine Chance
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„Im Vergleich zu Dieselaggregaten können Batteriespeichersysteme (BESS) keine unbegrenzte Anzahl von Autonomiestunden unter Standortbedingungen garantieren“, lautet eine Aussage des Uptime Institute. Doch das könne auch nicht das Ziel sein, argumentiert Guiseppe Leto, Portfolio Manager Data Center bei Siemens in der Schweiz (SI S VES VMM). Vielmehr gehe es darum, die Service Level Agreements anders zu fassen. Wie er das meint?

Eigentlich ist es ganz einfach: Die Service-Level-Agreements (SLAs) bezüglich Verfügbarkeit und Leistung sollten sich nicht auf ein einzelnes Rechenzentrum beziehen, sondern auf einen Verbund. In dem Siemens-Whitepaper „Going Green; Decarbonizing the data center industry“, das Leto verfasst hat, heißt es: „Für diejenigen, die unbegrenzte Stunden Autonomie unter Standortbedingungen und darüber hinaus anstreben, ist eine Hybridlösung aus BESS- und Cloud-Technologien die Antwort.“ Denn die Nutzung von Cloud-Infrastrukturen mindere das mit längeren Ausfällen verbundene Risiko, da die Betreiber die Möglichkeit haben, Rechenlasten in ein anderes Rechenzentrum zu verlagern.
Hyperscale-Cloud-Anbieter wie Google (siehe Kasten im Artikel: „Bess füttert das belgische Google-Datacenter mit Energie und Kohle; Batteriespeicher anstelle von Notstromdiesel im Rechenzentrum“ leisten mit diesem Ansatz Pionierarbeit und haben große Erwartungen in Bezug auf Kosteneinsparungen und Umsatzgenerierung.
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Bess füttert das belgische Google-Datacenter mit Energie und Kohle
Batteriespeicher anstelle von Notstromdiesel im Rechenzentrum
Doch wie das Papier ausführt, können Betreiber von Unternehmens- und Konzernrechenzentren, für die die Cloud-Technologie weitgehend verfügbar ist, sich in einer ähnlichen Situation befinden. Es verweist auf einen Bericht des Analystenhauses 451 Research aus dem Jahr 2018. Demnach werden voraussichtlich "mehr als 90 Prozent der Organisationen" Cloud-Techniken einsetzen. Die Siemens-Voraussage lautet somit: „Ein solcher Ansatz wird dazu führen, dass sich Organisationen der Dekarbonisierung zuwenden und Investitionen in eine zuverlässigere, verteilte digitale Infrastruktur konsolidieren.“
Co-Location-Anbieter indes könnten aufgrund ihrer bestehenden SLAs daran gehindert werden, zu den ersten Anwendern der BESS-Technologie zu gehören. Viele Mieter erwarten nach wie vor unbegrenzte Autonomiestunden im Falle eines Netzausfalls. TÜV-Regularien und Normen wie die EN 50600 tun dazu ihr Übriges, wie Leto ausführt.
Doch auch für die Provider bestehe durchaus die Möglichkeit, die Bedingungen für die Standortzuverlässigkeit zu überdenken, indem eine verteilte Architektur angeboten werde. Letztlich liege es aber an den Mietern. Wenn sie das höchste Niveau an Serviceverfügbarkeit erreichen wollen, müssen sie ihre Arbeitslasten auf zwei (oder mehr) Rechenzentren verteilen (Anm. der Redaktion, was ohnehin ratsam ist und für Rechenzentrumsbetreiber eine große Chance im Wettbewerb zu den Hyperscaler].
Warum noch einmal?
BESS erlaubt eine ultraschnelle Umschaltzeit, erübrigt zumindest zum Teil eine getrennte USV-Anlage, spart daher Platz und Kosten, erlaubt die Partizipation am Strommarkt, generiert also Umsatz durch den Verkauf von Energie. Da auch die Kosten für Lithium-Ionen-Batterien (in Euro pro Kilowattstunde (kWh)) aufgrund der steigenden Nachfrage und der Großserienfertigung sinken, steigt der Grad der Wirtschaftlichkeit und Praktikabilität im Vergleich zu Dieselaggregaten.
Wie Siemens-Manager Leto ausführt ist dieses bessere Kosten-Nutzen-Verhältnis sowohl bei den Kapital- als auch bei den Betriebskosten messbar, berechnet über einen Zeitraum von 20 Jahren des Anlagenlebenszyklus-Managements.
Das gilt auch für Umweltvorteile. Nach Schätzungen von Google sind in der Rechenzentrumsbranche derzeit über 20 Gigawatt an Backup-Dieselgeneratoren in Betrieb, die sich größtenteils ersetzen ließen, etwa in Kombination mit Gaskraftwerken und Wasserstoff-basierter Technik.
Umdenken
Laut Leto gibt es zwei Voraussetzungen, unter denen sich die umweltschädlichen Dieselgeneratoren ausmustern ließen. Beide liegen in der IT-Last begründet. Die erste Bedingung ist die „Cloudifizierung“, eine wie auch immer geartete Virtualisierung, die erlaubt Workloads auf verschiedene Rechenzentren zu verteilen – auch flexibel. „In Deutschland“, sagt Siemens-Manager Leto, sind die Latenzen dank guter Glasfaserverbindungen zwischen den Datacenter verblüffend niedrig.“ Das wiederum ermöglicht, dass verschiedene Rechenzentren in Backup-Verfahren oder auch im active-active-Modus zusammenarbeiten.
Die zweite Voraussetzung ist eine Priorisierung der Arbeitslasten, der Anwendungen. Das ist kein neuer Gedanke und wird etwa bei der Unterscheidung von hot und cold data praktiziert, um die Storage-Kosten in den Griff zu bekommen. Selbstredend gebe es Anwendungen, die kritisch sind und in keinem Fall eine Verzögerung vertrügen. Banken, die nicht schnell genug agieren können, werden vom Börsenhandel ausgeschlossen, zum Beispiel. Andererseits gibt es Anwendungen, die nicht einmal 24 Stunden an sieben Tagen laufen müssen.
Schlussendlich erlaubt eine solche Priorisierung, dass den Anwendungen unterschiedlich hohe Verfügbarkeit zugesprochen wird, abgestuft nach ihrer Kritikalität. Im Zweifelsfall oder auch im Notfall lassen sich andere Systeme 'runterfahren. Das aber erhöht wiederum die Verfügbarkeit des Batteriespeichers für die kritischen Systeme (in der Abbildung 3 gibt Leto ein Beispiel, wie das aussehen könnte).
In der Abbildung 3 findet sich ein Beispiel, wie das aussehen könnte. Sie enthält nicht nur eine Klassifizierung gemäß der Wichtigkeit von Anwendungen, sondern auch die Maßnahmen, die im Ausnahmefall ergriffen werden müssten. In die Kategorie fielen die Anwendungen, die zu den in Deutschland typischen Arbeitszeiten benötigt werden, also zwischen sieben und neun Stunden pro Tag. Für die Anwendungen, die in den Bereich „not relevant“ oder „shut down“ fallen, könnte der Kunde etwa einem Rechenzentrumsbetreiber die Erlaubnis erteilen, die Lasten abzuschalten.
Was leistet eine BESS?
Um einzuschätzen, ob die Batteriezeit ausreicht, ist das Wissen um den Customer Average Interruption Duration Index, kurz: Caidi, nützlich. Damit verbindet sich eine Kennzahl, die von vielen Netzbetreibern für ein Land erhoben wird und besagt, wie viele Stunden, Minuten ein durchschnittlicher Ausfall pro Kunde dauert. Somit lässt sich Caidi auch als durchschnittliche Wiederherstellungszeit interpretieren.
Generell sieht es dafür in Deutschland gut aus. Obwohl der volatile Anteil an Strom aus Sonnen- und Wasserkraftwerken steigt, sind die Werte für die durchschnittlichen Ausfallzeiten gesunken, wie in Abbildung 4 dargestellt - zumindest zwischen 2016 und 2020. Würde man den Index für Deutschland einer durchschnittlichen BESS-Laufzeit von zwei Stunden gegenüberstellen, so zeigte sich, dass ein Batteriespeichersystem die meisten, wenn auch noch nicht alle Ausfälle abdecken könnte.
Leto führt aus: „Eine große Installation von Fluence, einem BESS-Hersteller im Besitz von Siemens und AES, liefert beispielsweise 100 Megawatt (MW) Strom mit einer Laufzeit von vier Stunden.“ Dieses Li-Ionen-BESS mit der Bezeichnung „Gridstack“ umfasst einen Mittelspannungstransformator, ein Energie-Umwandlungsmodul, mehrere vorgefertigte Cubes, einen Telco-Schrank für die Datenübertragung, die Steuerung und Anlagenverwaltung sowie eine Verwaltungssoftware mit Algorithmen für maschinelles Lernen zur Verbesserung der Systemleistung des gesamten Lebenszyklus-Managements.
Die Anzahl der Starkstromausfälle habe sich in dem beobachteten Zeitraum bis heute auf zwei, drei Mal pro Jahr beschränkt, referiert Leto. Dabei belief sich der längste auf 406 Minuten. „Somit differiert die Größe einer BESS beziehungsweise die Dauer der zu überbrückenden Zeit, von Land zu Land, von Gegend zu Gegend“, referiert Leto, doch in Deutschland sind wir nah an der erforderlichen Zeitspanne.“ (siehe: Abbildung 5)
Er schließt: „BESS ist ein industrietaugliches Design und für die kurzfristige Notstromversorgung von Rechenzentren, flexible Spitzenkapazitäten, Frequenzregulierung, Integration von erneuerbaren Energien sowie für die Verbesserung von Übertragung und Verteilung konzipiert.“ Ein solches System sei skalierbar, aber nicht der alleinige Heilsbringer, sondern ein Baustein, wenn es darum gehe, unabhängiger und nachhaltiger in der Stromversorgung für Rechenzentren zu zu werden.
Dafür aber müssen Paradigmen überdacht und Service Level neu konzipiert werden, "sonst haben Dieselalternativen keine Chance", schließt Leto.
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