Das Rätsel der grünen Energievermehrung Rechenzentren sollen CO2-neutral werden. Aber wie?
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Die Digitalisierung schreitet voran und das ist gut so. Noch mehr Rechenzentren sind in Deutschland geplant – also noch mehr Strom für die IT, wobei unklar ist, wo der Strom herkommen soll. EU und Bundesregierung verlangen von uns, dass wir unsere Rechenzentren klimaneutral betreiben sollen – wie das, in Deutschland, mit noch mehr Kohlekraft und ohne Greenwashing gelöst werden soll, ist rätselhaft.

Eigentlich war alles klar geregelt mit dem aktuellen Koalitionsvertrag – oder doch eher unklar? Im Vertrag haben SPD, Grüne und FDP Folgendes vereinbart:
1. Neue Rechenzentren sind ab 2027 klimaneutral zu betreiben.
2. Wir richten unser Erneuerbaren-Ziel auf einen höheren Bruttostrombedarf von 680 bis 750 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2030 aus. Davon sollen 80 Prozent aus erneuerbaren Energien stammen.
3. Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Es heißt: „Idealerweise gelingt das schon bis 2030. (…) Das verlangt den von uns angestrebten massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken.“
... und Gas
Auf Druck der Bundesregierung wurde Erdgas in die EU-Taxonomie aufgenommen. Eine erstaunliche Entwicklung in Anbetracht der CO2-Emissionen pro erzeugter kWh Strom durch Erdgas.
Die Politik wollte durch die Taxonomie Gas als „fossilarm“ vermarkten und Investitionen in Gaskraftwerke ankurbeln. Geplant wurde es mit „Nord Stream 2“ und dadurch eine mögliche Verdoppelung der Einfuhren aus Russland von 55 Milliarden Kubikmeter auf 110 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr.
Heute wissen wir: Es ist anders gekommen, ganz anders!
Anfang Juli empfahl der für die Energiewende zuständige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Patrick Graichen, den deutschen Unternehmen wegen der sich rasch entwickelnden Energiekrise die Anschaffung von Notstromaggregaten. Für die Datacenter-Industrie keine große Überraschung, die meisten haben solche Anlagen schon.
Fünf Tage später reagierte auch der Deutsche Bundestag auf diesen energiepolitischen Offenbarungseid. Schließlich war auch der Strompreis am Terminmarkt inzwischen auf mehr als 320 Euro pro Megawattstunde hoch geschossen und lag siebenmal höher als vor der Krise.
Nun hat die Bundesregierung hat per Gesetz sichergestellt, dass Kohlekraftwerke verstärkt zum Einsatz kommen werden. Dabei wollte die Ampel eigentlich den Kohleausstieg beschleunigen. Das „Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken“ soll der Bundesregierung ermöglichen, zumindest „übergangsweise“ wieder verstärkt auf Kohle zu setzen. So werden wir mit viel Braunkohle rechnen müssen, weil die besonders dreckige Braunkohle ein heimischer Energieträger ist.
„Ersatzstrom“ mit 10 Tagen Anlaufzeit
Damit kann die Bundesregierung Kraftwerke aus Reserven wieder in den Markt bringen, um Gas zu sparen. Das Gesetz soll zusätzlich rund 10 GW an Kraftwerkskapazitäten sichern, vor allem durch Kohle, um die Gasverstromung vor dem Hintergrund der russischen Gas-Lieferkürzungen zu reduzieren. Somit soll mehr Gas zur Einspeicherung bereitstehen, um im Winter die Versorgung zu gewährleisten.
Nach dem Gesetz müssen die Betreiber von Steinkohlekraftwerken zudem mindestens fünf Werktage vor dem Start der betreffenden Anlage die Bundesnetzagentur und den Übertragungsnetzbetreiber über den bevorstehenden Start informieren. Bei den Braunkohle-Anlagen aus der Sicherheitsreserve beträgt der Vorlauf 240 Stunden – oder zehn Tage –, so der Gesetzestext. Sie sollen nur zum Einsatz kommen, wenn die anderen Reservekapazitäten nicht ausreichen.
Wie sinnvoll es ist, Ersatzkapazitäten bereitzuhalten, bei denen das Hochfahren zehn Tage braucht, können wir gerne diskutieren.
Hinweis: Interessenten können Staffan Reveman auf dem „DataCenter Strategy Summit“ treffen, der am 13. Oktober in Bad Homburg stattfindet, – spätestens um 17:35 Uhr, wenn er seine Keynote „Vom Koalitionsvertrag in die Praxis: Wie können wir unsere Rechenzentren klimaneutral betreiben?“ hält.
Sollte Russland beispielsweise die Gaslieferungen dauerhaft einstellen, wird der Bund den Kraftwerksbetreibern erlauben, Kohlekraftwerke wieder hochzufahren, die eigentlich schon in der Reserve sind und stillgelegt werden sollten. Das Ziel dabei: Das im Notfall verbliebene Erdgas soll nicht mehr für die Stromproduktion verwendet werden, sondern für die Wärme-Erzeugung und industrielle Prozesse.
Klimaneutralität abgesagt
Dazu ein Beispiel aus Karlsruhe: Der Energielieferant Enbw darf den Kohlemeiler „RDK 7“ sowie das Netzreservegaskraftwerk „4S“ im Dampfkraftwerk des Rheinhafens weitere 16 Jahre betreiben. Für die Rechenzentren in Karlsruhe eine gute Nachricht – für das Klima nicht.
Das Regierungspräsidium (RP) Karlsruhe hat der Laufzeitverlängerung am 14. September zugestimmt. In der Genehmigung argumentierte das RP vor allem mit der Energiekrise und der Netzstabilität. Die Entscheidung beschere „einem in vielerlei Hinsicht technisch veralteten Kohlekraftwerk, dessen Stilllegung Mitte 2022 eingeleitet werden sollte, eine Wiedergeburt“.
Sind die Erneuerbaren die Rettung?
Reflexartig kommt der Verweis auf den Ausbau der Eneuerbaren Energien, die rein rechnerisch bis zu 50 Prozent zum Strommix beitragen. Der Monat mit den längsten Tagen des Jahres ist, wie wir alle wissen, der Juni. Betrachten wir den Beitrag der erneuerbaren Energien im Juni 2022 und gleichzeitig die Stromnachfrage (rote Linie):
Zwischen der tatsächlichen Erzeugung der Erneuerbaren und Stromnachfrage sehen wir eine erhebliche Lücke von oft 40 Gigawatt. Heute wird die Lücke durch Kohle-, Gas- und Kernkraft gedeckt. Die letzten Kernkraftwerke gehen in Dezember vom Netz, die Kohlekraftwerke bekommen viel mehr zu tun und das Gas wird knapp.
Dabei passiert jetzt, was nicht passieren darf: Spürbar leiden wir unter den Klimawandel und gleichzeitig nehmen die Emissionen in Deutschland zu. Laut einer IWR-Auswertung der Stromeinspeisungsdaten der europäischen Übertragungsnetzbetreiber Entso-E wurden bislang in diesem Jahr rund 52,3 TWh Strom aus Braunkohle eingespeist, gegenüber dem Vorjahreszeitraum ist dies schon jetzt ein Plus von 8 Prozent.
Denn die Kraftwerke sind hungrig: Ein großes Steinkohlekraftwerk braucht unter Volllast etwa 20.000 Tonnen Kohle am Tag. Die Steinkohleverstromung ist um 40 Prozent auf 30,8 TWh gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Stromerzeugung aus Gas um 14 Prozent auf 26,6 TWh gesunken.
Greenwashing als Geschäftsmodell
Was aber macht die Datacenter-Branche? Zumindest einige Akteure agieren etwas weltfremd. Es wird von Klimaneutralität und Grünstrom gesprochen. Selbstverpflichtungen werden freizügig unterschrieben und Versprechungen abgegeben. Mit Ökostrom-Herkunftsnachweisen wird gehandelt und PPAs vermittelt.
Investoren werden mit Ökostrom nach Deutschland gelockt. Die Branchenvertreter loben das Land als Datacenter-Standort, reagieren aber teilweise sehr gereizt, wenn die Fakten offenbar werden.
Gleichzeitig müssen wir, um Strom zu sparen, ab 22 Uhr die Leuchtreklamen und Fassadenbeleuchtungen abschalten. Nachhaltigkeit ist zum Mainstream geworden und alle sollen fröhlich mitmachen. Es geht offensichtlich um sehr viel Geld.
Ich vermisse klare Positionen. Warum wird das Energieproblem in unsere Branche verharmlost? Warum beziehen wir nicht Stellung und artikulieren unsere Meinungen, auch wenn es weh tut. Mit „Energiewende-Halleluja“ sollte Schluss sein - die Lage ist ernst!
Gravity und Fliehkräfte
Was passiert, scheint das Gegenteil zu sein: Aus Hessen ist zu hören, dass Investoren und Betreiber von Rechenzentren mit bis zu zusätzlich 2 Gigawatt Anschlussleistung sich gerne in Großraum Frankfurt etablieren wollen. Meistens handelt es sich um Hyperscaler und Co-Location-Betreiber aus dem Ausland.
Unter den Spekulanten werden Bauplätze in Hessen mit genug Strom hoch bewertet, vielleicht ist das der Hauptgrund. Von „Gravity“ wird gesprochen und Gravity hört sich gut an – wirklich verstehen tun es die wenigsten (siehe: „Die Entstehung des Datacenter-Hotspot in Frankfurt; Data Gravity – ein Phänomen“).
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Die Entstehung des Datacenter-Hotspot in Frankfurt
Data Gravity – ein Phänomen
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Warum und wo sich Daten anziehen
Was ist Data Gravity?
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Datensammlung und das Schwarze Loch
Data Gravity stößt an seine Grenzen
Es wird jedoch vergessen, dass es auch Fliehkräfte gibt. Es sind Kräfte die in die Gegenrichtung wirken. Dazu gehören die Emissionen, CO2-Fußabdruck, „das lästige Klimaproblem“, Stromkosten, Kosten für Bau und Bauplätze, eine zunehmende Stromknappheit, Bürokratie und Personalmangel.
Was ständig vergessen wird: Die Stromnetzbetreiber sind per Definition für das Netz zuständig. Wenn ein Netzbetreiber eine Frage zu Mehrbedarf an Strom beantworten soll, kann er sich nur über die Netzkapazität äußern, also zu Umspannwerken und Netzen (Stromleitungen), nicht aber zu Erzeugungskapazitäten. Wenn ein Netzbetreiber einige Megawatt für einen Neubau bestätigt, bedeutet das somit mitnichten, dass es dafür genug Strom gibt. Es bedeutet lediglich, dass das Netz die Leistung übertragen kann.
Für die Stromerzeugungskapazitäten ist die Politik, das Wirtschaftsministerium in Zusammenarbeit mit der Bundesnetzagentur zuständig. Die Politik muss Anreize schaffen, damit in zusätzliche Kapazitäten investiert wird.
Der Übertragungsnetzbetreiber Amprion hat aber neulich erklärt: „Wir können unter den uns bekannten Umständen, die als Randbedingungen in den zweiten Stresstest eingeflossen sind, daher nicht ausschließen, dass es in Deutschland in diesem Winter zu so genannten Lastunterdeckungen kommt.“ Damit wird sehr diplomatisch und politikerfreundlich erklärt, dass die Stromnachfrage höher werden kann als das Angebot. Das Ergebnis wird als Versorgungsunterbrechung definiert.
Ich nenne es Stromausfall.
Scheindekarbonisierung
Kritisch sehe ich das Verhalten der Industrieverbände. Dass wir uns in einer schwierigen energiepolitischen Lage befinden, ist allen bekannt. Das Borderstep Institut hat kürzlich aktualisierte Daten für den Stromverbrauch von Rechenzentren in Deutschland vorgelegt. „Setzen sich die aktuellen Trends weiter fort, so wird der Energiebedarf der Rechenzentren in Deutschland trotz der deutlichen Effizienzgewinne bei IT und bei den Infrastrukturkomponenten auch in Zukunft weiter ansteigen“. Von 17 Terawattstunden (TWh) in 2021 auf etwa 28 TWh im Jahr 2030.
Wenn wir die Zahlen näher betrachten, bedeutet 17 TWh Verbrauch eine durchschnittliche Leistung von fast 2 Gigawatt. Bei 28 TWh zum Ende des Jahrzehnts sind wir bei 3 Gigawatt und mehr angekommen - in etwas mehr als sieben Jahren!
Wärmerückgewinnung: Wenn nicht jetzt - wann dann?
Wenn uns Best Practice wirklich interessiert, sollten wir beispielsweise nach Schweden schauen. In den letzten Jahrzehnten konnte das EU-Land die CO2-Emissionen erheblich reduzieren und gleichzeitig ein hohes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum aufrechterhalten. Dies ist vor allem auf die landesweite Ausweitung der effizienten Fernwärme- und Fernkälteversorgung aus fossilfreien Energieträgern zurückzuführen.
Heute werden mehr als 60 Prozent aller schwedischen Wohn- und Geschäftsgebäude mit Fernwärme beheizt, und das schwedische Modell wird in Ländern auf der ganzen Welt erfolgreich aktiv umgesetzt, leider nicht in Deutschland. In Schweden werden keine Häuser mit Gas oder Öl beheizt. Die Fernwärme dominiert, der Rest wird mit Wärmepumpen und Pellets beheizt.
Die Fernwärme wird hauptsächlich aus Biomasse und Müllverbrennung gewonnen. Die Forstwirtschaft ist bedeutend und liefert viel Abfall. Rechenzentren beteiligen sich ebenfalls und bekommen für ihre Abwärme auch noch Geld. Doch auch die Kühleinrichtungen der Supermärkte, die U-Bahnschächte, die Eishallen produzieren Wärme und speisen diese in Nah- und Fernwärmenetze.
Und hierzulande geht das nicht?
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