IT in der Ukraine IT-Branche der Ukraine funktioniert auch im Krisen-Modus

Wie kommt die ukrainische IT-Branche mit den Bedingungen des Angriffs auf ihr Land zurecht? Ist es noch möglich und sinnvoll, dorthin Aufträge zu vergeben? Mit diesen und anderen Fragen befasste sich ein von Thomas Krenn organisiertes Video-Roundtable-Gespräch, an dem Verbands- und Firmenvertreter aus der Ukraine teilnahmen.

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Die Ukraine ist mittlerweile ein bedeutender IT-Markt.
Die Ukraine ist mittlerweile ein bedeutender IT-Markt.
(Bild: gemeinfrei / Pixabay )

Die Ukraine ist wie viele osteuropäische Länder ein aufsteigender IT-Standort. „Wir sind inzwischen ein globales Tech-Powerhouse“, sagt dazu Konstantin Vasyuk, Geschäftsführer des ukrainischen IT-Verbandes.

Der Verband wurde 2004 gegründet. Es gehören ihr mittlerweile 110 Firmen an, die rund 77.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter repräsentieren. Davon beschäftigen sich derzeit 12 Prozent ausschließlich mit Service, 19 Prozent produzieren und 69 Prozent sind bei Software und Service aktiv. Die IT-Unternehmen konzentrieren sich in 35 Regionen und kooperieren strategisch mit dem IT-Verband.

IT bringt mehr als vier Prozent des Bruttosozialprodukts

Die IT-Branche steht für mehr als vier Prozent vom ukrainischen Bruttosozialprodukt. Damit liegt das Land etwa gleichauf mit vielen europäischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich.

Höher liegen mit mehr als fünf bis über sieben Prozent Anteile beispielsweise Estland, Malta, Ungarn, Schweden oder das Vereinigte Königreich. Unter vier Prozent trägt die IT etwa in Österreich oder Polen zum Bruttosozialprodukt bei.

Der Anteil der Serviceexporte an den Gesamt-IT-Exporten der Ukraine ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich auf nunmehr 37 Prozent gestiegen
Der Anteil der Serviceexporte an den Gesamt-IT-Exporten der Ukraine ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich auf nunmehr 37 Prozent gestiegen
(Bild: Ukrainischer IT-Verband)

Auch das Exportwachstum kann sich mit 27 Prozent pro Jahr sehen lassen. Besonders die Service-Exporte legten in den vergangenen Jahren zu und erreichen mittlerweile 37 Prozent vom Gesamt-IT-Export.

Fremdsprachenkundige IT-Profis

Im Land arbeiten über 300.000 professionelle IT-Spezialisten, von denen rund 80 Prozent mindestens mittelmäßig Englisch sprechen. Wichtige Märkte, die die Ukraine bedient, sind E-Commerce, Banking oder Fintech. „Unsere Firmen erhalten in den einschlägigen Listen meistens hohe Rankings“, sagt Vasyuk. Im Lande befänden sich mehr als hundert Technologieniederlassungen großer Unternehmen wie Amazon, Microsoft, SAP oder Google.

Zudem hat die IT-Industrie sich als potente Hilfe des ukrainischen Staates in der Situation des russischen Angriffskrieges erwiesen. So spendeten die IT-Unternehmen im Verband 12,1 Millionen Dollar für humanitäre Zwecke.

Sie zahlten 6,3 Millionen Dollar Steuern im Voraus, um die Staatskassen gefüllt zu halten, was dem Management gewisser US-Unternehmen wahrscheinlich ein zynisches Lächeln aufs Gesicht malt. Und sie unterstützten mit einer genauso hohen Summe direkt die ukrainischen Truppen. Dies seien Daten nach zehn Tagen Krieg, die mittlerweile übertroffen sein dürften, betonte Vasyuk.

IT-Fachkräfte haben trotz Krieg gut zu tun

Die Arbeit scheint in der ukrainischen IT-Industrie trotz der gefährlichen Lage nicht auszugehen. Vasyuk: „Mehr als 85 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten normal weiter.“ 70 Prozent würden ihre Tätigkeit aus sicheren Gegenden innerhalb der Ukraine ausüben. Rund 16 Prozent seien ins Ausland emigriert, vor allem Frauen, arbeiteten aber von dort über Telekommunikationsverbindungen an ihren Projekten.

„Ukrainische Unternehmen konnten aktuell sogar Kunden gewinnen", Konstantin Vasyuk, Geschäftsführer des Ukrainischen IT-Verbandes.
„Ukrainische Unternehmen konnten aktuell sogar Kunden gewinnen", Konstantin Vasyuk, Geschäftsführer des Ukrainischen IT-Verbandes.
(Bild: Ukrainischer IT-Verband)

Immerhin fünf Prozent sind zur Cyber-Verteidigung der Ukraine gewechselt. Zwei Prozent haben sich direkt den Truppen angeschlossen und kämpfen mit der Waffe.

Von den Firmen, bei denen der IT-Verband über Daten verfügt, konnten bis zum 18. März 44 Prozent der Verbandsfirmen trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen 80 Prozent ihrer Verträge fortführen. 19 Prozent sicherten 30 bis 80 Prozent ihrer Verträge. Immerhin 39 Prozent gelang es, sämtliche Kunden und Verträge zu halten. „Es kommen sogar neue Kunden“, freute sich Vasyuk.

Starlink und Glasfaser sichern Connectivity

Dass es der ukrainischen IT-Industrie noch recht gut geht, liegt auch an der Kommunikationstechnik. Erstens hat das Land ein sehr gut ausgebautes Glasfasernetz. Zweitens wurden die bisherigen Regularien hinsichtlich des von Elon Musk betriebenen Starlink-Satellitennetzes gelockert.

Ukrainische Firmen erhielten deswegen mehr als 10.000 Starlink-Terminals. Vasyuk: „Die Terminals sind jetzt unentbehrlich, weil wir dort spezielle Kanäle für Firmen nutzen können, wenn das Glasfasernetz mal nicht funktioniert.“ Russland reagiert auf die telekommunikative Hilfe inzwischen mit persönlichen Drohungen gegen den Multimilliardär, die aber Musk nicht zu beeindrucken scheinen.

Business-Continuity-Erfahrungen nach Krim-Annektion und während der Corona-Pandemie bewähren sich

Orest Furhala, Direktor Allianzen und Partnerschaften bei N-ix konstatierte, man habe mindestens seit 2014, als Russland die Ukraine annektierte, mit Gefahr und ständigem Wandel leben müssen. Dies und die Corona-Pandemie hätten dazu geführt, dass viele Unternehmen einen funktionsfähigen Business-Continuity-Plan ausgearbeitet hätten. Das zahle sich nun aus.

„Durch die Krim-Annektion und Corona haben viele ukrainische Firmen gut funktionierende Business-Continuity-Pläne, so dass jetzt alle vorbereitet waren und die Arbeit weitgehend weiterläuft“, Orest Furhala, Direktor Allianzen und Partnerschaften N-ix.
„Durch die Krim-Annektion und Corona haben viele ukrainische Firmen gut funktionierende Business-Continuity-Pläne, so dass jetzt alle vorbereitet waren und die Arbeit weitgehend weiterläuft“, Orest Furhala, Direktor Allianzen und Partnerschaften N-ix.
(Bild: Thomas-Krenn AG)

„Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren vorbereitet darauf, remote zu arbeiten“, sagt auch Grigoriy Shadara von COO Computertools.Vor allem habe man mehr Zeit in die Kundenkommunikation stecken müssen.

Effizienztraining Covid

Jetzt erhalte man viel Unterstützung von alten und neuen Kunden. Im ersten Quartal „haben wir zehn neue Partner und viele neue Aufträge besonders von Bestandskunden aus dem deutschsprachigen Raum bekommen“, so Furhala.

Auch Shadara kann von Wachstum ab März/April berichten. Es komme vor allem von Bestandskunden.

Gefragt, wie man die Mitarbeiter motiviere, sagten die beiden ukrainischen Firmenvertreter übereinstimmend, das sei nicht nötig. „Covid war ein echtes Effizienztraining“, betonte Vasyuk. Und gerade angesichts der Krisensituation motivierten sich die Belegschaften selbst.

Wenn nötig: Umzug gen Westen

Man sei sehr patriotisch eingestellt. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten zudem in ihrer Freizeit als Freiwillige beispielsweise an der Beseitigung der Kriegsfolgen oder unterstützten Flüchtlinge.

„Wo es nötig war, etwa in Charkiw, haben wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter in den Westen transferiert mit dem Ziel, sie schließlich nach Polen zu bringen“, berichtet Furhala. Dabei wurde das Büro in Lwiv tagelang zum Schutzraum und zur Sammelstelle, wo ganze Familien von Flüchtlingen lagerten.

Beschleunigte IT-Ausbildung

Teils wurden auch Niederlassungen umstrukturiert und Server in die Cloud verlagert. Gebe es doch einmal ein Problem mit einem Kundenprojekt, könne man meist verhandeln. Kunden seien durchaus bereit, kleinere Terminverschiebungen zu akzeptieren.

Unter den derzeit rund 110 Mitgliedern des ukrainischen IT-Verbandes sind 69 Prozent im Service- und Softwaregeschäft, 12 Prozent bieten ausschließlich Services an und 19 Prozent konzentrieren sich auf die Produktion.
Unter den derzeit rund 110 Mitgliedern des ukrainischen IT-Verbandes sind 69 Prozent im Service- und Softwaregeschäft, 12 Prozent bieten ausschließlich Services an und 19 Prozent konzentrieren sich auf die Produktion.
(Bild: Ukrainischer IT-Verband)

Der Verlust von Mitarbeitern, die zum Militär oder der Cyber-Verteidigung gehen sowie der durch neue Aufträge steigende Bedarf wird ausgeglichen. „Andere Branchen müssen viele Mitarbeiter entlassen. Es werden deshalb Kurse organisiert, wo man als kompletter Neuling IT und Projektmanagement lernen kann“, berichtet Visyuk. Man habe es geschafft, die Ausbildungen in IT zu verkürzen, ohne die Qualität einzuschränken. Auch die Unis in Lwiv und Kiew unterrichten, allerdings vor allem virtuell.

Unterstützung und Aufträge willkommen

Heiko Adamczyk, Business Development Manager OT beim Sicherheitsspezialisten Fortinet, beleuchtete die Situation aus der Perspektive eines Sicherheitsdienstleisters. „Wir erleben verschiedene Formen neuer Viren, die Infrastrukturen angreifen, aber das war schon vor dem Krieg so.“ Sein Unternehmen hilft Fortinet-Kunden in der Ukraine mit freien Trainings. „Fallweise liefern wir auch kostenlos Service und Technologie, um Netze zu schützen“, sagt Adamczyk.

IT-Verbandschef Vasyuk betonte, jede Unterstützung sei herzlich willkommen. So bietet Thomas Krenn jetzt an, ukrainische Software-Anbieter in seinen Online-Marktplatz aufzunehmen.

Wer die ukrainische IT-Industrie beauftragen oder auf andere Weise unterstützen möchte, ohne bereits über entsprechende Verbindungen zu verfügen, kann sich direkt an den ukrainischen ukrainischen IT-Verband wenden.

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