Zertifizierung in der Pandemie „Zertifikatsgültigkeit wird nach Remote-Prüfung um sechs Monate verlängert“

Autor / Redakteur: lic.rer.publ. Ariane Rüdiger / Julia Schmidt |

Die TÜV Informationstechnik GmbH, kurz: TÜViT, ein Unternehmen der TÜV Nord Gruppe, bietet seit fast 20 Jahren RZ-Prüf- und Zertifizierungsdienstleistungen an. DataCenter-Insider sprach mit Joachim Faulhaber, bei TÜViT Fachbereichsleiter Data Center, und Mario Lukas, Vertriebsleiter in diesem Bereich, über die Corona-Krise, die aktuelle Entwicklung und zukünftige Pläne.

Anbieter zum Thema

Die Erfahrungen in der Corona-Zeit haben auch bei der RZ-Zertifizierung den Wert von Remote-Technologien als Ergänzung zur physischen Präsenz gezeigt.
Die Erfahrungen in der Corona-Zeit haben auch bei der RZ-Zertifizierung den Wert von Remote-Technologien als Ergänzung zur physischen Präsenz gezeigt.
(Bild: gemeinfrei / Pixabay )

Herr Faulhaber, Herr Lukas, derzeit spricht alles über Corona. Wie hat sich die Krise auf die Rechenzentrumsdienstleistungen von TÜViT und Ihre Kunden ausgewirkt?

Faulhaber: Wir arbeiten schon immer ein Viertel unserer Zeit mobil, den Rest am Schreibtisch. Von daher ist unsere Ausrüstung schon länger den mobilen Anforderungen gewachsen, wir sind von überall arbeitsfähig. Das Rechenzentrum des TÜV Nord, das wir nutzen, hatte keine Probleme. Interne Gespräche werden jetzt halt virtuell geführt.

Lukas: Man erreicht die Leute sogar besser, weil man in den Tools sieht, ob sie da sind. Arbeitswege entfallen zum Teil, was sich auch auf unsere Überlegungen hinsichtlich der Zukunft auswirkt.

Frage: Inwiefern?

Faulhaber: Wir konnten in letzter Zeit keine Vor-Ort-Begehungen durchführen. Die ersten haben erst kürzlich wieder stattgefunden. Mittlerweile haben wir ja rund 200 Standorte zertifiziert, davon diverse mehrfach, so dass wir auf mehr als 600 Zertifizierungen kommen. Wir brauchten also eine Lösung für fällige Re-Zertifizierungen. Nun werden die Zertifikate der betreffenden Standorte um ein halbes Jahr verlängert unter der Bedingung, dass wir ein Remote-Audit durchführen können.

Screenshot und Video statt Visite

Frage: Wie läuft das ab?

Faulhaber: Die Kunden teilen uns schriftlich die relevanten Änderungen mit, sie schicken Screenshots und Fotos, wir schalten uns, wenn möglich, auch auf die Gebäude-Leittechnik auf und sehen, in welchem Wirkbereich sie arbeitet. Dann findet eine Videobegehung statt, wir sehen also Live-Bilder aus dem Rechenzentrum, ohne dort zu sein. Ist dem Anschein nach alles ok, wird das bestehende Zertifikat verlängert. Die Kunden müssen die volle Rezertifizierung nach heutigem Stand innerhalb von sechs Monaten absolvieren, sie erhalten dann ein neues Zertifikat für weitere 18 Monate. Wir haben das jetzt in fünf Fällen so gehandhabt.

Frage: Ändert das auch den Ablauf zukünftiger Zertifizierungen?

Faulhaber: Wir überlegen, dass wir weniger Leute ins RZ schicken und zusätzlich Medien einsetzen. Das ist besonders im Ausland wichtig. Normalerweise kommen vier bis fünf Leute für zwei bis drei Tage, um ein RZ zu auditieren – im Ausland müssen wir sie einfliegen. Das muss vielleicht gar nicht sein, vielleicht reicht eine Person, wenn sie gut gebrieft wurde. Schließlich zertifizieren wir nur mit eigenen, gut ausgebildeten Kräften und zugeschalteten Experten von TÜV Nord für bestimmte Fragen, aber nicht mit externen Dienstleistern. Besonders wichtig wird das in Bezug auf Märkte wie Asien, die durchaus an unserer Arbeit interessiert sind.

Lukas: Wir expandieren auch in Spanien und den Niederlanden, und wir haben Zertifizierungsprojekte in Estland und Großbritannien. Insgesamt gibt es rund 30 auditierte und teils zertifizierte RZ außerhalb der DACH-Region, und die Zahlen steigen. Die Anfragen gehen oft auch in Richtung EN 50600.

RZ-Norm EN 50600 ist auch international interessant

Frage: Wie erklären Sie sich das Interesse im Ausland an TÜViT-Zertifizierungen nach EN-Norm?

Faulhaber: Wir haben diesen Standard mit entwickelt, setzen ihn mit der TSI.EN50600-Zertifizierung um und gelten als Experten. Es gibt Länder, etwa in Südostasien, wohin wir auch expandieren, da folgt man gern anerkannten Normen. Zudem wird ja auch daran gearbeitet, die EN 50600 in eine internationale Norm ISO/IEC 22237 umzusetzen. Das dürfte etwa noch zwei Jahre dauern.

Lukas: Wir tun auch sonst etwas für unsere Attraktivität. So gibt es jetzt eine Art Zertifizierungs-Flatrate für treue Bestandskunden über sechs Jahre, also drei Rezertifizierungen. Das kostet einen Fixpreis, der in Form jährlicher Raten abbezahlt wird. Das Angebot wird sehr gern angenommen.

Frage: Vor einigen Jahren ist das US-amerikanische Uptime-Institut in den deutschen RZ-Beratungs- und Zertifizierungsmarkt eingestiegen. Wie hat sich das Wettbewerbsverhältnis entwickelt?

Faulhaber: Bislang hat es erst sehr wenige Zertifizierungen durch Uptime in Deutschland gegeben, meines Wissens Design-Zertifizierungen von zwei Rechenzentren. Uptime bietet mittlerweile auch Trainings in Deutschland an, wir sehen aber darin nicht unbedingt einen Wettbewerb zu unserem Weiterbildungsprogramm.

Zertifizierung nur ein Teilbereich der TÜViT-Services

Frage: Wie wichtig ist das Zertifizierungsgeschäft für Sie?

Lukas: Zertifizierungen machen nur 30 Prozent aus. Die Zertifizierung wird seit zwei Jahren auch zweistufig angeboten. Im ersten Teil prüfen wir etwa 75 Prozent, nämlich den Bau und die technische Gebäudeausrüstung, soweit er in Verantwortung des umsetzenden Generalunternehmers liegt. Dazu liefern wir einen umfassenden vorläufigen Zertifizierungsbericht. In Phase 2 geht es dann um den Betrieb. Dieser Teil muss innerhalb der folgenden sechs Monate absolviert werden. Wir haben inzwischen ein ganzes Service-Portfolio, das man im Zusammenhang betrachten muss: das TSI.Ecosystem.

Frage: Was gehört dazu?

Lukas: Das fängt an mit Einsteiger-Workshops, im Moment per Video und deshalb rund 20 Prozent günstiger…

Faulhaber … die inzwischen auch von Behörden gebucht werden, weil sie mehr über unsere Rechenzentrumszertifizierung wissen wollen…

Joachim Faulhaber, Fachbereichsleiter Datacenter bei TÜViT (rechts) und Mario Lukas, Vertriebsleiter in diesem Gespräch, im Videointerview mit DataCenter-Insider.
Joachim Faulhaber, Fachbereichsleiter Datacenter bei TÜViT (rechts) und Mario Lukas, Vertriebsleiter in diesem Gespräch, im Videointerview mit DataCenter-Insider.
(Bild: Rüdiger)

Lukas: … und geht weiter mit Standort- und Planungsbewertungen, baubegleitenden Quality Gates, also einer Baubegehung, die prüft, ob die Pläne auch in die Realität umgesetzt wurden. Weitere Services prüfen die Inbetriebsetzung, machen eine Abnahmeprüfung. Zwei Services begutachten ältere RZs: ein knapper Statuscheck mit Gap-Analyse und ein kompletter TSI-Konformitätscheck. Der mündet dann oft in eine Ertüchtigungsplanung, womit wir wieder am Anfang wären.

Mehr Partner, mehr Services

Frage: Wie wollen sie das Dienstleistungsspektrum weiterentwickeln?

Lukas: Zunächst mal gehört noch mehr zu unserem Ökosystem. So das Programm TSI.Partner, zu dem wir natürlich neue Partner hinzunehmen: Planungs-, Beratungs- und RZ-Baufirmen in Generalunternehmerschaft, die sich mit unserer TSI-Methode auskennen und sie nachweislich praktisch für RZ-Bauvorhaben anwenden. Derzeit sind es acht Unternehmen. Dann die derzeit 55 TSI.Professionals. Das sind Einzelpersonen, die einen Kurs von zweieinhalb Tagen durchlaufen, einen Test ablegen und mindestens drei Jahre Berufserfahrung im RZ-Umfeld nachweisen können. Auch hier bilden wir weiter aus. Diese Kreise haben Zugriff auf unsere Whitepaper-Bibliothek TSI.DOC, die ebenfalls wächst, und werden als Inputgeber bei Überarbeitungen der Kriterienkataloge einbezogen. Dazu planen wir neue Services.

Frage: Welche?

Lukas: Die TSI- und TSI-EN50600-Zertifizierung zielen auf Sicherheit und Verfügbarkeit. Wir haben mit TSe2 auch noch eine auf Energieeffizienz und Ökologie ausgelegte Zertifizierung im Programm, konnten aber mangels Interesse bisher nur zwei Standorte in Zürich zertifizieren. Wir suchen nun nach Chancen, dieses Thema breiter im Markt zu verankern. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen, das dauert mindestens noch bis Jahresende.

Faulhaber: Nur so viel: Wir ziehen uns hier nicht zurück, sondern wir investieren langfristig. Anfang 2020 haben wir drei neue Experten eingestellt. Einen mit langjähriger Industrieerfahrung in Sicherheitstechnik, einen Normungsspezialisten, der schon fürs Umweltbundesamt als Gutachter tätig war und sich mit Energieeffizienz auskennt und einen Mitarbeiter aus dem Universitätsbereich, der Auditerfahrung hat und mit dem Spezialgebiet Kältetechnik. Die letztgenannten Bereiche sind ja wichtig für die Umweltleistung von Rechenzentren.

Ist Energieeffizienz in der Norm ein Randthema?

Frage: Könnte man Fragen der Energieeffizienz oder des ökologischen Fußabdrucks in der EN 50600 verankern?

Faulhaber: In der Norm geht es heute vorrangig um Sicherheit und Verfügbarkeit der RZ-Infrastruktur. Sie macht Vorgaben, wie bestimmte Grade an Sicherheit und Verfügbarkeit erreicht werden können. Energieeffizienzthemen werden in der Norm insoweit adressiert, dass sie Anforderungen an das Energiemonitoring stellt und in den Unterabschnitten des Normtextes unter DIN EN 50600-4 Erläuterungen zu diversen Energieparametern liefert, aber nicht dazu, welche Effizienzgrade wünschenswert wären. Energieeffizienz wird unter anderem in ISO 30134 bearbeitet und die Vorgab en bei Bedarf in EN 50600 übernommen. Wir bemühen uns darum, das Thema in den EN- und ISO-Normungsgremien auszubauen.

(ID:46632793)