Digitaler Zwilling, Industrie 4.0-Fertigung und ein Edge-Datacenter im mittelhessischen Haiger Rittal wird 30 Prozent effektiver

Autor / Redakteur: lic.rer.publ. Ariane Rüdiger / Ulrike Ostler

In Haiger hat Rittal eine neue Fabrik für Schaltschränke eröffnet, die nach Industrie-4.0-Prinzipien aufgebaut ist und produziert. Dabei steigt nicht nur die Effizienz der Produktionsvorgänge. Auch die Mitarbeiter müssen fleißig dazulernen.

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Hinter dem rosa Tor warten modernste Produktionsanlagen auf die Aufträge der Rittal-Kunden.
Hinter dem rosa Tor warten modernste Produktionsanlagen auf die Aufträge der Rittal-Kunden.
(Bild: Ariane Rüdiger)

Mit 30 Prozent beziffert Carsten Röttchen, Geschäftsführer Produktion, die Effizienzgewinne der neuen Rittal-Produktionsstätte in Haiger, für die eine andere, ältere Fabrik in Herborn stillgelegt wird. In dem schwarzen Kasten mit dem auffälligen in Rittal-pink gehaltenen Torrahmen werden nach modernsten Prinzipien mehrere Schaltschrankserien produziert.

Hergestellt werden hier die neue Schrankserie "AX", die Kleinschrankserie "KX" sowie Sockel für "VX"-Schränke. Rund 9000 fertige Geräte sollen täglich entstehen – eins alle 18 Sekunden. Dafür jagen dann, ebenfalls pro Tag, 600.000 Steuermeldungen durch das interne Netz.

Produktionsprozess ohne Medienbrüche

Bei der Konzeption strebte Rittal an, während des gesamten Prozesses von der Kundenbestellung irgendwo auf der Welt bis zur Auslieferung möglichst alle Medienbrüche zu vermeiden. Realisiert wird das durch konsequente Digitalisierung.

Wer zukünftig einen Rittal-Schrank will, setzt sich irgendwo auf der Welt an einen Online-Konfigurator und klickt sich, ähnlich wie beim Autokauf, eine individuelle Schrankkonfiguration zusammen. Klar, dass auch Preis sofort zu sehen ist.

Als hilfreich entpuppt sich hier, dass Rittal schon 1999 ein Software-Unternehmen übernommen hatte, das auf die Konfiguration von Stromleitungen spezialisiert ist. Dessen E-Plan-Software ermöglicht Kunden heute ihre Schränke so zu planen, dass es keine Platzprobleme oder Engpässe bei Kabeldurchführungen gibt – eine erhebliche Fehlerquelle. Kunden bekommen demnächst auch das Datenmodell ihres Schranks, das wiederum steuernd auf die CNC-Maschinen in der Produktion zugreift.

Automatischer Produktionsstart

Die Daten abgeschlossener Bestellungen fließen ins Distributionszentrum. Dort übernimmt sie „SAP APO„ (Advanced Planning and Organization). Die SAP-Anwendung überspielt sie dann in die digitalen Steuersysteme im Produktionsumfeld, wodurch automatisch der Fertigungsprozess für die jeweils bestellten Schränke beginnt. Das System berechnet aus den Daten aus Grundtypen rund 500.000 unterschiedliche Schrankvarianten.

Mehr als 600.000 Meldungen täglich erzeugt die automatisierte Produktionsanlage von Rittal und analysiert sie.
Mehr als 600.000 Meldungen täglich erzeugt die automatisierte Produktionsanlage von Rittal und analysiert sie.
(Bild: gemeinfrei Pixabay / Pixabay )

Produziert wird ziehend, also nur auf Bestellung. Das nötige Material erhält im Eingangsbereich einen Barcode und wird dann im Steuerungssystem erfasst und ins Hochregallager transportiert. Dieses ist wie alles hier voll automatisiert. Das Ziel des Gesamtprozesses: Deutsche Kunden erhalten ihre Schränke innerhalb von 24 Stunden.

3.000 Stunden Simulation

Bevor die reale Fabrik aufgebaut wurde, gab es ein ausschließlich digitales Vorspiel: Das gesamte Produktionsgeschehen wurde 3.000 Stunden lang simuliert, was etwa 17 Wochen reiner Rechenzeit entspricht. Schließlich sollen während des Realbetriebs möglichst wenig unangenehme Überraschungen auftreten.

Die rund 300 Mitarbeiter, die heute in der Fabrik tätig sind, konnten sich so mit den neuen Abläufen vertraut machen, sofern sie von ihnen betroffen sind. Manche müssen kräftig dazulernen: In der Fabrik sind Qualifikationen gefragt, die es auf dem Arbeitsmarkt nicht gibt, so genannte Systeminstandhalter etwa. Sie müssen sich mit den Lösungen zur Produktionssteuerung genauso auskennen wie mit SAP APO und SPS (speicherprogrammierbaren Steuerungen) sowie Leitrechnern innerhalb der Fabrik.

Die Datenalanyse zur Optimierung aller Prozesse soll schon bald durch eine Edge-Cloud übernommen werden, die sich auf dem Werksgelände in einem Container befinden wird. Der ist aber noch nicht aufgebaut. An diesem Projekt sind auch zwei andere Tochterunternehmen von Rittal beteiligt, die helfen sollen, die Digitalstrategie der Friedhelm-Loh-Group umzusetzen: Innovo Cloud und die frisch gegründete German Edge Cloud.

100 Maschinen auf 24.000 Quadratmetern

Die Produktionsfläche im Werk umfasst 24.000 Quadratmeter. Auf ihr stehen 100 Maschinen und deren Steuerungen. Realisiert werden die Arbeitsschritte Rohfertigung, Tauchgrundierung und Montage. Die Abwärme des Tauchgrundier-Prozesses heizt die Fabrik.

Derzeit wird noch unter Anlaufbedingungen hergestellt. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Terminplanung für die Fertigung jeweils in der Nacht für den gesamten kommenden Tag berechnet wird. Eigentlich dauert das nur zwei Stunden und kann deshalb auch während des Produktionsprozesses tagsüber stattfinden. Aber noch wird alles besonders sorgfältig überprüft, um Fehlerquellen auszuschließen, und das bedeutet mehr Zeitbedarf.

Breite Gänge für Menschen und fahrerlose Transportsysteme, weiße Maschinenkäfige, nicht allzu viele Menschen: So sieht es in der neuen Fabrik von Rittal aus
Breite Gänge für Menschen und fahrerlose Transportsysteme, weiße Maschinenkäfige, nicht allzu viele Menschen: So sieht es in der neuen Fabrik von Rittal aus
(Bild: Rittal)

Im Untergeschoss befinden sich Wareneingang und Fertigung, im Obergeschoss der Lackierprozess. Im Fertigungsbereich mit seinen breiten, deutlich abgegrenzten Gängen und den oft mit Sicherheitskäfigen abgegrenzten Maschinen gibt es Pufferlager, um Unregelmäßigkeiten abzupuffern. Außerdem lagern beispielsweise Edelstahlplatinen, aus denen die Schrankaußenwand hergestellt wird, um Transportwege zu sparen, maschinennah.

Automatische Anlieferung und Abholung

Zwischen dem Maschinenpark und den Lägern wuseln 17 mit Sensoren und Netzwerkverbindung ausgerüstete fahrerlose Transportfahrzeuge scheinbar ziellos herum. Kommuniziert wird entweder über Kabel oder industrielles WLAN. Die Sensoren in Maschinen und Fahrzeugen produzieren pro Tag bis zu 11,2 Terabyte Daten.

Die fahrerlosen Transportsysteme liefern das Material sekundengenau an die richtige Maschine. Jede von ihnen hat drei Tische, einen für die Anlieferung, einen für die Abholung und einen für die Bearbeitung. Ist der Anlieferungstisch leer, meldet die Maschine per OPC (Open Platform Communication) Materialbedarf.

Schon holt eines der Fahrzeuge das nächste benötigte Teil aus dem entsprechenden Lager, wo es automatisiert bereitgestellt wird. Ähnlich läuft es am Abholtisch, nur geht hier das bearbeitete Werkstück zum Zwischenlager oder zur nächsten Maschine.

Neue Fertigungstechnologien

Wo möglich, wurden auch hinsichtlich der Maschinen neue, effizientere Verfahren ausgewählt. Laserschneiden plus digitale Planung des „Schnittmusters“, nach dem Metallteile aus dem Blech geholt werden, verringert den Abfall. Zudem kann man so auf ein Blech unterschiedliche Formen ineinander verschachteln. Mit dem bislang verwendeten Stanzverfahren ging das nur sehr begrenzt.

Hochvernetzt und -automatisiert arbeiten die Maschinen in Rittals neuer Schrankfabrik in Haiger
Hochvernetzt und -automatisiert arbeiten die Maschinen in Rittals neuer Schrankfabrik in Haiger
(Bild: Rittal)

Laserschweißen vereinfacht den Produktionsprozess, weil das Grundblech nur einmal aufgespannt werden muss, nicht mehrfach wie bisher. Außerdem erzeugt die Technik weniger Abwärme und ist sehr viel genauer. Auch die Qualitätssicherung ist im 21. Jahrhundert angekommen: Sie misst die Genauigkeit der Schweißnaht direkt vor Ort, so dass defekte Systeme schon hier aussortiert werden.

250 Millionen Invest

Das Investitionsvolumen für das neue Werk liegt bei 250 Millionen Euro. 2018 hat Rittal 2,6 Milliarden Euro umgesetzt. Eine Investition von zehn Prozent des Umsatzes ist nicht gerade wenig für einen Mittelständler, selbst wenn er wie das Traditionsunternehmen aus Mittelhessen weltweit exportiert.

Rittal will aber weiter im relativ teuren Deutschland produzieren und auch möglichst viele Mitarbeiter in die digitalisierte Zukunft mitnehmen. Deshalb wurden, so Professor Friedhelm Loh, Vorstandsvorsitzender und Inhaber des Unternehmens während der Presseveranstaltung anlässlich der Präsentation der neuen Fabrik, allein eine Million Euro in Weiterbildung investiert.

Die Mitarbeiter mitnehmen

Rittal unterhält unter anderem eine eigene Akademie, um Mitarbeiter für die intern benötigten Fähigkeiten zu schulen und so bei der Stange zu halten. Dazu kommt ein Innovationszentrum, das die Mitarbeiter an die digitalen Produktionsprozesse heranführen soll und auch Besuchern einen Blick in die Industrie-4.0-Welt eröffnet.

Das Konzept scheint zu funktionieren: Produktionsleiter Röttchen erwähnte einen 55jährigen Mitarbeiter, der nach jahrzehntelanger händischer Tätigkeit eine einjährige IHK-Weiterbildung absolvierte. Inzwischen ist der Mann Maschinenführer einer der Maschinen in der neuen Fabrik und hat damit einen zukunftsfähigen Job.

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