Mehr Sicherheit in unsicherer Zeit Ein Algorithmus ermittelt: Wann sind Corona-Beschränkungen in welchem Maß notwendig?
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Um die Rate der Neuinfektionen bei der Covid-19 Epidemie klein zu halten und gleichzeitig die Negativ-Folgen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zu begrenzen, sollten Schutzmaßnahmen adaptiv an die jeweiligen Fallzahlen angepasst werden. Forschende der Universität Stuttgart haben ein Rechenmodell entwickelt, mit dem sich adaptive Maßnahmen bei Unsicherheit deutlich zuverlässiger bestimmen lassen.

Welche Verbote sind nötig, welche Lockerungen möglich? Dies ist aufgrund der unsicheren und dynamischen Datenlage sowie der Komplexität des Infektionsgeschehens und der Maßnahmen schwer abzuschätzen.
In einem gerade veröffentlichten Aufsatz analysieren Forschende um Professor Frank Allgöwer, Leiter des Instituts für Systemtheorie und Regelungstechnik der Universität Stuttgart, Wissenschaftler im Forschungsverbund Cyber Valley sowie stellvertretender Direktor und Sprecher des Exzellenz-Cluster EXC 2075 „Daten-Integrierte Simulationswissenschaft“, die Covid-19 Epidemie in Deutschland unter der Anwendung von regelungstechnischen Methoden. Die Gruppe entwickelt Strategien, die Auskunft darüber geben, wann Kontaktbeschränkungen in welchem Maße notwendig sind.
Bei den Berechnungen setzte das Team an den jüngst beschlossenen schrittweisen Lockerungen der infektionsschützenden Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen an. Diese drücken sich in ihrem Modell durch erhöhte Infektionsraten aus. Als Alternative berechnen die Forschenden den optimalen Verlauf für den Fall von Lockerungen beziehungsweise Verschärfungen der Maßnahmen.
Ungenauigkeit ist das Problem
Das Problem dabei: Modelle sind grundsätzlich ungenau und daher für langfristige Vorhersagen wenig geeignet. Daher ist es von größter Wichtigkeit, dass jede Strategie zur Eindämmung des Virus kontinuierlich auf der Basis aktueller Fallzahlen angepasst wird. Man benötigt also Methoden, um trotz großer Unsicherheiten adaptiv die optimale Einflussnahme bestimmen zu können oder - wissenschaftlich gesprochen - eine robuste Feedback-Strategie.
Um dieses Problem zu lösen, setzen Allgöwer und sein Team auf das Prinzip der so genannten modellprädiktiven Regelung, wie es beispielsweise auch beim Autonomen Fahren zur Anwendung kommt. Hierbei wird aus einer Vielzahl an Daten und Strategien die beste Strategie für die Zukunft berechnet, dann aber nur für einige wenige Tage angewendet.
Anschließend wird dieser Rechenprozess mit aktualisierten Parametern erneut durchgeführt und wieder die optimale Strategie ermittelt. Es entsteht also ein kontinuierlicher Rechenprozess, bei dem die ursprüngliche Strategie ständig angepasst wird und auch mehrere Vorhersagemodelle berücksichtigt werden können.
Weniger Todesfälle auch ohne strengere Maßnahmen
Durch das in der Strategie implementierte Feedback, das heißt der Adaption der Maßnahmen an die aktuellen Fallzahlen, kann die Ausbreitung des Virus auch dann gut kontrolliert werden, wenn das Modell nicht exakt ist, so die Theorie. Erste Ergebnisse zeigen, dass eine solche Regelung unter Unsicherheiten deutlich bessere Ergebnisse liefert als konventionelle Strategien. Zudem kann sie verhindern, dass zeitweise wieder eine Verschärfung der Maßnahmen aufgrund stark steigender Fallzahlen notwendig wird.
Forschungsleiter Allgöwer drückt die Hoffnung wie folgt aus: „Mit der resultierenden optimierten Strategie lässt sich die Zahl künftiger Todesfälle durch Covid-19 halbieren, obwohl insgesamt keine strengeren Maßnahmen notwendig sind und auch keine erhöhten Kosten für die Öffentlichkeit und die Wirtschaft entstehen.“
Die Originalpublikation: Johannes Köhler, Lukas Schwenkel, Anne Koch, Julian Berberich, Patricia Pauli, Frank Allgöwer: „Robust and optimal predictive control of the COVID-19 outbreak”
* Andrea Mayer-Grenu arbeitet in der Abteilung Hochschulkommunikation Universität Stuttgart.
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