„Da scheiden sich die Geister“, ein SAP-Partner im Interview S/4HANA-Migrationen kommen nach dem Ende der Pandemie in Fahrt

Von Jürgen Frisch Lesedauer: 7 min |

Anbieter zum Thema

„Die Zeit der aufgeschobenen oder gestreckten SAP-Projekte ist vorbei“, berichtet Lorenz Beckmann vom SAP-Partner NTT Data Business Solutions. Gefragt sei aktuell die rein technische Migration auf „S/4 HANA“. Das Optimieren der Abläufe folgt später.

Eine „SAP S/4 HANA“ -Migration ist ein Aufbruch in eine fremde Welt. Die Unternehmen müssen sich entscheiden, was sie mitnehmen, in welches Terrain sie wollen - Cloud oder nicht - und ob sie zugleich optimeiren wollen.
Eine „SAP S/4 HANA“ -Migration ist ein Aufbruch in eine fremde Welt. Die Unternehmen müssen sich entscheiden, was sie mitnehmen, in welches Terrain sie wollen - Cloud oder nicht - und ob sie zugleich optimeiren wollen.
(Bild: frei lizenziert: Leni / Pixabay)

Autor Jürgen Frisch hat im Auftrag von DataCenter-Insider Lorenz Beckmann dazu befragt.

Während der Corona-Krise haben einige Unternehmen ihre SAP Projekte verschoben. Im vergangenen Jahr haben sie diese dann teilweise wiederaufgenommen. Wie ist die aktuelle Situation?

Lorenz Beckmann ist Principal Solution Expert and Advisor SAP S/4 HANA & Sustainability beim SAP Partner NTT Data Business Solutions.
Lorenz Beckmann ist Principal Solution Expert and Advisor SAP S/4 HANA & Sustainability beim SAP Partner NTT Data Business Solutions.
(Bild: NTT Data Business Solutions)

Lorenz Beckmann: Bei NTT Data Business Solutions haben wir bei begonnenen Projekten keinerlei Verschiebungen gesehen. Auch die geplanten Projekte sind gestartet worden. Diese wurden ja von langer Hand vorbereitet und die Unternehmen haben dafür Ressourcen eingeplant. Nach dem Ende der Pandemie ist die Nachfrage nach Unterstützung bei der Migration auf SAP S/4 HANA stark gestiegen. Dazu kommt immer stärker das Thema „RISE with SAP“.

Greenfield, Brownfield oder Bluefield - welche Migrationswege nutzen die Anwender und was eignet sich für wen am besten?

Lorenz Beckmann: Hier muss ich zunächst die Begriffe erläutern: 'Bluefield' ist ein geschützter Markenname der SNP AG. Der offizielle Bezeichnung für diese Art des Umstiegs auf SAP S/ 4HANA lautet 'Selective Data Transition'. Er wird von unserem Tochterunternehmen, der Natuvion GmbH in einem Allfield-Ansatz umgesetzt.

Der Greenfield-Ansatz bedeutet, dass man das System komplett neu erstellt. Hierfür braucht man die besten Mitarbeiter aus IT und Fachabteilungen ein bis zwei Jahre lang jeweils an vier bis fünf Tagen pro Woche. Das können sich die wenigsten Unternehmen leisten. So entscheiden also die Personalkapazitäten über die Migrationsmethode. Wir haben im Jahr 2020 unsere Kunden befragt, und demnach nutzt lediglich eines von zehn Unternehmen den Greenfield-Ansatz.

Die anderen fahren entweder den Brownfield-Ansatz oder Selective Data Transition. In beiden Varianten werden bestehende Geschäftsprozesse übernommen. Wobei in der Selective Data Transition auch eine Conversion drinsteckt, nur, dass vorher eine Datenharmonisierung und weitere Vorbereitungen stattfinden, wie etwa die unterjährige Einführung des neuen Hauptbuchs.

Wie stark lässt sich im Rahmen von Selective Data Transition eine Systemmigration automatisieren?

Lorenz Beckmann: Bei der Selective Data Transition migriert man einen leeren Mandanten, also eine so genannte Empty Shell, um dort befreit von allen Stamm- und Bewegungsdaten die Abläufe zu optimieren.

Im nächsten Schritt wird der konvertierte Mandant mit Daten beladen. Hier steckt erst mal relativ wenig Automatisierungspotenzial drin. Es gab die Idee, im Rahmen der Custom Code Retirement und Custom Code Redemption einfache Veränderungen über so genannte Quick Fixes zu automatisieren. Dieser Strang wird aktuell aber nicht mehr verfolgt. Andererseits gibt es die Möglichkeit, die Datenbereinigung zumindest in Teilen zu automatisieren.

Viele Unternehmen nutzen die Migration auf S/4HANA dazu, ihre Geschäftsprozesse zu optimieren. Womit fangen sie dabei an?

Lorenz Beckmann: Das hängt vom Transitionspfad ab. Die größten Freiheitsgrade, Prozesse anzupassen, hat man in einer Greenfield-Implementierung, denn hier erstellt man das System auf der grünen Wiese völlig neu auf Basis von Best Practices der SAP. Bei den anderen Wegen, sei es nun Brownfield oder Selective Data Transition, ist man durch die referentielle Integrität der Objekte relativ stark gebunden.

Um die Komplexität aus dem Projekt herauszunehmen, ändern viele unserer Kunden bei der Migration erst einmal keine Geschäftsabläufe. Sie setzen vielmehr ihr System nach der Conversion oder der Selective Data Transition produktiv um und optimieren die Prozesse erst, nachdem sich der Betrieb einen Monat oder zwei Monate lang eingespielt hat.

Bei einer rein technischen Migration bildet man also ein vorhandenes Altsystem eins zu eins in einem neuen System ab, um auf die aktuelle Plattform zu kommen. Und die Änderungen an den Geschäftsprozessen erfolgen dann in späteren Schritten?

Lorenz Beckmann: Ja, im weitesten Sinne werden die Abläufe „1:1“ übernommen. Sowohl bei der Brownfield Conversion als auch bei der Selective Data Transition wird zunächst vor allem das getan, was getan werden muss – also die obligatorischen Simplification Items umgesetzt, das Custom Coding umgesetzt sowie Add-ons, Schnittstellen und SAP Satelliten-Systeme technisch auf SAP S/4 HANA angepasst.

Die eigentliche Optimierung von Oberflächen, Funktionen und Prozessen sowie die Mehrwertgenerierung finden in einem späteren Schritt statt. Nach der Pflicht kommt die Kür, und zwar im eigenen Tempo mit der eigenen Priorisierung des jeweiligen Unternehmens. Dabei lassen sich in kleinen Projekten schnell spürbare Mehrwerte generieren.

Welche Optimierungen folgen typischerweise im zweiten Schritt?

Lorenz Beckmann: Am häufigsten führen die Unternehmen die neuen SAP-Oberflächen, genannt FIORIs ein. Das sind Web-basierte Oberflächen in Form von Kacheln, so wie wir das von Windows gewohnt sind - einfach zu erlernen und zu bedienen – ganz im Gegensatz zur klassischen Oberfläche SAP-GUI.

Auf dem zweiten Platz liegt das Thema Sustainability. Hier setzen viele der dazugehörigen SAP-Tools technisch ein S/4 HANA-System voraus.

Jetzt Newsletter abonnieren

Täglich die wichtigsten Infos zu RZ- und Server-Technik

Mit Klick auf „Newsletter abonnieren“ erkläre ich mich mit der Verarbeitung und Nutzung meiner Daten gemäß Einwilligungserklärung (bitte aufklappen für Details) einverstanden und akzeptiere die Nutzungsbedingungen. Weitere Informationen finde ich in unserer Datenschutzerklärung.

Aufklappen für Details zu Ihrer Einwilligung

An dritter Stelle liegen dann fachliche Themen von komplett neu programmierten Fachbereichslösungen, beispielsweise das Ersetzen der klassischen Variantenkonfiguration durch die Advanced Variant Configuration oder der Umstieg auf das neue Qualitäts-Management.

Wenn wir davon ausgehen, dass Unternehmen ihre Geschäftsmodelle künftig öfter ändern - welchen Einfluss hat das auf die Architektur von IT-Systemen? Glauben Sie an das von Gartner propagierte Mehrschichtmodell eines ERP Systems der verschiedenen Geschwindigkeiten?

Lorenz Beckmann: Ja, ich denke, dass dies das Modell der Zukunft ist. Früher wurde das ‚Keep the Core clean‘ genannt. Auch, wenn es um RISE with SAP geht, ändert man an den Kernprozessen so wenig wie möglich.

Zusatzfunktionen, die nicht im Kern abgebildet sind, fügt man über Erweiterungen in der Business Technology Platform hinzu. Man schnürt dabei auf das Kernsystem quasi einen Rucksack obendrauf. Diese Konstruktion erleichtert künftige Updates deutlich.

Das Gespräch von Autor Jürgen Frisch und Lorenz Beckmann steht als Podcast #10 zur Verfügung

Folge #10 des Podcast „DataCenter Diaries“ ist auch auf Amazon, Spotify, Deezer und Apple zu hören.

Unternehmen, die ihr SAP System bereits länger nutzen, haben üblicherweise Eigenentwicklungen im Einsatz, mit denen sie frühere Systeme funktional erweitert haben. Wie gehen Sie mit diesen Systemteilen bei einer Migration um?

Lorenz Beckmann: Hier steigen wir in das vorhin bereits angesprochene Thema Custom Code Conversion und Retirement ein. Es geht um die Z- und Y-Programme, welche die Kunden im Laufe der Jahre entwickelt haben.

Zunächst analysiert man vor der Systemtransformation deren Nutzung. Erweiterungen, die nicht mehr zum Einsatz kommen, muss man schließlich nicht migrieren.

Dann werden in der Systemumwandlung diejenigen Z-Programme übernommen und an SAP S/4 HANA angepasst, die einen Mehrwert darstellen. Auch hierbei gilt es abzuwägen, ob beispielsweise eine selbst programmierte Lösung wirklich besser ist als die entsprechende Standardfunktion von SAP S/4 HANA

Mit Low Code-Lösungen erweitern Fachanwender ihre ERP und CRM-Pakete funktional, ohne aufwändig in deren Programmierung einzugreifen. SAP hat dafür die Applikation SAP Build vorgestellt. Welche Rolle spielen denn diese Lösungen künftig aus Ihrer Sicht?

SAP Build spielt der IT der zwei Geschwindigkeiten in die Karten und wird daher eine immer größere Rolle bekommen. Die Idee der Low-Code-Lösungen besteht darin, dass gut ausgebildete Key User Erweiterungen der Programme umsetzen, die schnell Nutzen bringen. Einfache Dinge, bei denen es keiner komplexen Geschäftslogik bedarf. Das entlastet die IT-Abteilung. Mit SAP Build lassen sich Programme und Abläufe anpassen. Das Konzept stößt allerdings an seine Grenzen, wenn es darum geht, umfangreich neue Datenmodelle ins System zu bringen oder komplexe Funktionen oder Fachbereichslösungen zu programmieren. Dann kommt man um die klassische Programmierung nicht herum.

Wie muss eine Governance aussehen, wenn die Fachanwender selber Änderungen an einem SAP System oder an Applikationen vornehmen?

Lorenz Beckmann: Das ist die Achillesferse des Low-Code-Ansatzes. Man kann keinesfalls jedem Anwender die Möglichkeit geben, sich „'mal eben etwas zusammenzuklicken“. Nötig ist vielmehr ein straff organisierter Prozess, bei dem sich die Fachabteilung mit der IT abstimmt. Nur so lässt sich verhindern, dass zum Beispiel ein und dieselbe Anforderung mehrfach ins System gebracht wird. Es braucht also eine starke Governance und ein enges Alignment zwischen Fachabteilung und IT.

Wie sieht aktuell die Akzeptanz der Cloud und des Transformationsangebots RISE with SAP aus, und welche Rolle spielen dabei die Hyperscaler?

Lorenz Beckmann: Die Cloud ist inzwischen ein echter Megatrend, und zwar sowohl architektonisch als auch inhaltlich. Das Beispiel des stabilen Kerns und den über die Business Technology Platform 'drauf gepackten Rucksäcken hatte ich bereits beschrieben. Hinzu kommen Fachbereichslösungen, wie beispielsweise Success Factors oder Responsible Design and Production, die ja ebenfalls Cloud-Produkte sind.

Welche Systemteile bleiben im Haus?

Lorenz Beckmann: Das kommt darauf an. RISE with SAP bedeutet, dass ich mein Kernsystem nicht mehr selber betreibe. Es läuft stattdessen unter der Ägide der SAP - entweder in einem Rechenzentrum der SAP oder auf Hyperscaler-Hardware. Es ist eine Managed Service Cloud und obendrauf sitzen die Services.

Auch das Lizenzmodell hat sich geändert: Man geht weg vom Einmalkauf und der Wartung und hin zu einem Subscription Modell. Bei vielen Kunden ergeben sich dadurch über die Zeit betrachtet Kostenvorteile.

Betreiben die Unternehmen auch ihr Core-System nicht mehr inhouse?

Lorenz Beckmann: Da scheiden sich die Geister. Es gibt Unternehmen, die hier sehr konservativ sind, diese werden aber immer weniger. Auch viele Betriebe mit einem starken eigenen Datacenter migrieren künftig ihre Systeme im Rahmen von RISE with SAP nach und nach in eine Private Managed Cloud.

Dort wird es dann wieder zwei Geschwindigkeiten geben, also Systemteile, die sich sehr schnell ändern und andere Teile, die lange Zeit stabil bleiben. Die Unternehmen konsumieren die geschäftlichen Funktionen des Systems und mieten sich die gesamte Technologie dazu.

(ID:49422465)